marthe2010
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Organspende: Interview mit ehem. Krankenschwester

Erschütterndes Interview mit der Soziologin A. Manzei, die in ihrer Zeit als Krankenschwester jahrelang Patienten auf die Organentnahme vorbereitet hat.
Quelle: Frankfurter Rundschau, 22.05.212
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Wer noch warm ist, ist nicht tot

Alexandra Manzei hat 15 Jahre lang Komapatienten betreut und zur Organspende vorbereitet. Als sie das nicht länger ertragen konnte, gab sie ihre Arbeit als Krankenschwester auf und studierte Soziologie. Ein Gespräch über den Hirntod, das Sterben und Alternativen zu Transplantationen.
Alexandra Manzei weiß, wovon sie spricht, wenn sie als Soziologieprofessorin über das Thema Organspende redet. Vor ihrer akademischen Laufbahn hat sie viele Jahre auf der Intensivstation einer Unfallklinik in Frankfurt am Main gearbeitet und dort hirntote Patienten auf die Entnahme ihrer Organe vorbereitet. Diese Erfahrung floss in ihre wissenschaftliche Arbeit ein, als sie an der TU Darmstadt über Transplantationsmedizin promovierte. Nun hat der Bundestag eine Gesetzesänderung beschlossen, deren Ziel es ist, in der Bevölkerung die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen. Im Gespräch erläutert Alexandra Manzei, weshalb sie dieser Initiative kritisch gegenübersteht.

Frau Manzei, besitzen Sie einen Organspendeausweis?

Nein. Ich möchte weder Organe spenden noch erhalten, und ich möchte auch nicht, dass auf mich ein moralischer Druck ausgeübt wird zu spenden.

Woher rührt Ihre Ablehnung?
Ich habe fünfzehn Jahre als Krankenschwester gearbeitet, die meiste Zeit auf einer Intensivstation. Sie haben es dort mit Komapatienten zu tun, mit Menschen, die an schweren neurologischen Erkrankungen leiden. Und ich habe Hirntote gepflegt, die für eine Organtransplantation freigegeben waren. Das habe ich irgendwann einfach nicht mehr ausgehalten. Ich bin dann 1987 aus der Krankenpflege raus, nachdem ich nebenher das Abitur nachgeholt und Soziologie studiert hatte, und wollte nie mehr etwas mit Medizin zu tun haben.

Was war für Sie das Schlimmste?
Es war der Umgang mit den hirntoten Organspendern, die Sie ja als Krankenschwester oder Pfleger so weiter therapieren wie Sie es bei kranken Patienten gewohnt sind. Der einzige Unterschied ist ein rechtlicher. Nämlich, dass sie die hirntoten Patienten nicht mehr um ihrer selbst willen behandeln, sondern für einen Dritten, der seine Organe erhält. Das war mir nicht möglich. Während meines Studiums habe ich dann zunehmend auf anderen unfallchirurgischen Stationen gearbeitet.

In welcher Verfassung liegt ein hirntoter Mensch vor Ihnen?
Optisch gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen einem hirntoten Patienten und zum Beispiel einem Menschen, der im Koma liegt. Hirntote sehen nicht aus wie tot, ihr Herz schlägt, sie sind warm. Sie werden von den Ärzten und Krankenschwestern mit ihrem Namen angesprochen, sie werden gewaschen, vor allem auch hygienisch betreut, sie bekommen Infusionen und Medikamente, sie werden regelmäßig im Bett gewendet, damit sie keine Druckgeschwüre bekommen. Als betreuende Krankenschwester entwickeln sie natürlich eine persönliche Beziehung zu dem Patienten, sagen: „So, ich leg Sie jetzt mal auf die Seite.“ Wenn sie einen Patienten drehen, der Schmerzreaktionen zeigt, dann reagieren sie darauf, reden mit ihm.

Hirntote können Schmerzen empfinden?
Bekannt ist, dass es klare Schmerzreaktionen wie Schwitzen, Zucken, Blutdruckanstieg und die Rötung des Gesichts gibt. Sie treten nicht nur zufällig auf, sondern können auch konkret ausgelöst werden. Beispielsweise dann, wenn der Bauchraum zur Entnahme der Organe geöffnet wird. Dann steigen Blutdruck und Herzfrequenz sprunghaft an. Daher werden den Hirntoten in einigen Krankenhäusern sogar Schmerz- und Beruhigungsmittel gegeben. Das soll aber vor allem verhindern, dass das Personal verunsichert wird.

Wie meinen Sie das?
Bei hirntoten Menschen kann es durchaus zu reflexartigen Bewegungen des Körpers kommen. Während der Organentnahme wäre das verhängnisvoll.

Wie kommt es zum Hirntod?
Wenn ich aus meiner eigenen Praxis berichte, sind das in der Regel Menschen gewesen, die ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben. Oftmals junge Leute, die nach einem Verkehrs- oder Skiunfall auf die Station kamen, manchmal nur somnolent, also das Bewusstsein etwas eingetrübt, aber durchaus ansprechbar. Sie konnten sich artikulieren, Schmerzen äußern. Und dann passiert es, dass es durch die Gehirnschädigung zu einer Flüssigkeitseinsammlung im Gehirn kommt, die dazu führt, dass die Gehirnzellen zerstört werden.

Wie wird der Hirntod festgestellt?
Sie prüfen, ob bestimmte Grundfunktionen des Gehirns noch da sind beziehungsweise eben nicht. Zum Beispiel der Babinski-Reflex. Wenn man an der Fußsohle entlang streicht, biegt sich der große Zeh nach oben, das passiert bei gesunden Menschen nicht. Sie prüfen den Atemreflex, dazu wird das Beatmungsgerät abgestellt, was heute nur mit Zustimmung der Angehörigen gestattet ist. Dieser Prozess der Diagnostik, bei dem einzelne Tests in Abständen wiederholt werden, zieht sich zwölf bis vierundzwanzig Stunden hin, und in der ganzen Zeit verändert sich das Erscheinungsbild des Patienten nicht.

Was passiert dann?
Organisatorisch macht man einen Schnitt. Der Patient wird zur Organentnahme an den OP übergeben, und dort sind es dann ganz andere Pflegende und Ärzte, die mit ihm zu tun haben und wieder andere, die ihn anschließend in den Keller bringen. Das macht man, damit nicht diejenigen, die den Patienten betreut haben, ihn als Leiche zu sehen bekommen, kalt, weiß, steif.

Wenn man einen Hirntoten pflegt, damit seine Organe einem anderen Menschen zur Verfügung gestellt werden können, rettet man auch Leben. War das für Sie nicht Motivation genug dabeizubleiben?
Auf unsere Station kam einmal ein junger Mann, Anfang zwanzig, der mit den Kumpels betrunken in den Pool gesprungen ist, in dem das Wasser nur dreißig Zentimeter hoch stand. Er erlitt eine ganz hohe Wirbelsäulenfraktur. Er war relativ schnell hirntot. Die Eltern wurden aus dem Urlaub gerufen und mit der Frage Organspende konfrontiert. Sie haben das aus religiösen Gründen abgelehnt. Nach rechtlicher Lage ist die Medizin verpflichtet, die Maschinen abzustellen, weil dieser Patient als tot gilt …

… was heißt „Maschinen abstellen“ konkret?
Die Eltern können sich verabschieden, dann kommt der zuständige Anästhesist oder Neurologe und schaltet das Beatmungsgerät ab. Wir haben dann von außen in das Zimmer geblickt und darauf gewartet, dass das Herz des jungen Mannes zu schlagen aufhört. Das hat sich sieben oder acht Minuten hingezogen. Danach verändert der Patient sein Äußeres hin zu einer Leiche. Als ich diese Differenz erlebte, war mir klar, Hirntote sind keine Leichen. Diese Erfahrung war es, die mich später bewogen hat, mich mit dem Thema Hirntod wissenschaftlich auseinanderzusetzen.

Sie sagen, Sie haben den Patienten von außen durch die Scheibe beobachtet. Warum war niemand im Moment des Sterbens bei ihm?
Rechtlich war er ja schon tot. Das ist genau das Dilemma. Dennoch haben wir aus Pietät das Zimmer verlassen. Es gibt auch Ärzte, die aus Gründen der Pietät am Bett verweilen. Jeder hat seine eigene Art und Weise, damit umzugehen.

Es gibt kein Reglement, wie man zu verfahren hat?
Ich habe in meiner Ausbildung überhaupt nichts gelernt zum Thema Hirntod. Das ist in Deutschland erst seit 1997 sukzessive geschehen, seit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes.

Wenn für Sie ein Hirntoter nicht tot ist, was ist er dann?
Ein Sterbender.

Irgendeinen Zeitpunkt muss man doch aber festlegen, um eine Organentnahme zu ermöglichen.
Das stimmt, denn von Leichen können keine Organe mehr gewonnen werden. Mit Leichenteilen würde man den Empfänger vergiften, weil der Zersetzungsprozess in den Organen bereits begonnen hat. Das erklärt, warum überhaupt die verschiedenen Todesdefinitionen entstanden sind. Früher galt ein Mensch als tot, wenn sein Herz stillstand und er nicht mehr wiederbelebt werden konnte. Innerhalb von wenigen Minuten kam es nach dem Herzversagen zu Sauerstoffmangel im Gehirn, der das Absterben aller Organe zur Folge hatte. Erst als es Mitte des 20. Jahrhunderts möglich war, Menschen durch Maschinen zu beatmen, reichte die bisherige Definition nicht mehr. Es entstand ein Krankheitszustand, den man zunächst irreversibles Koma nannte: Die Menschen starben nicht, sie wachten aber auch nicht wieder auf.

Was wir als Hirntod bezeichnen.
Das gültige Hirntodkonzept wurde 1968 durch eine Kommission der Harvard Medical School entwickelt. Ein Jahr zuvor war es erstmals gelungen, ein menschliches Herz zu transplantieren. In der Folge entstand ein Bedarf an frischen Spenderorganen. Um die Beschaffung von Organen überhaupt zu ermöglichen, setzte die Kommission das irreversible Koma ganz pragmatisch als neues Todeskriterium fest.

Blieb das unwidersprochen?
Bereits 1970 warnte der amerikanische Philosoph Hans Jonas, die neue Definition diene nur dem Zweck, an die Organe heranzukommen. Die Unterstützer des Hirntodkriteriums begannen dann, Argumente nachzuschieben. Die erste Begründung war, dass menschliches Leben mit Bewusstsein verbunden sei und mit der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Dies sei bei einem Hirntoten nicht mehr gegeben, daher habe er seine genuinen Eigenschaften als Mensch verloren und sei keine Person mehr. Das wurde bald als westliche Sichtweise kritisiert. Buddhisten zum Beispiel glauben nicht, dass das Ende der Personalität auch das Ende des menschlichen Lebens bedeutet. Ende der 70er-Jahre wurde das Ganze durch das biologische Argument ersetzt, wonach das Gehirn das zentrale Organ des Menschen ist. Fällt es aus, gibt es kein funktionierendes Individuum mehr.

Gibt es eine Definition für den Hirntod?
In Deutschland wird der Hirntod als „Zustand der irreversibel erloschenen Funktionen des gesamten Gehirns, also des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ definiert.

Wenn man das Gehirn als übergeordnetes Steuerorgan aller elementaren Lebensvorgänge begreift, sollte man doch annehmen, dass mit dem Hirntod der Mensch in seiner Ganzheit gestorben ist.
Ist er aber nicht. Was ich erlebt habe, ist keine Ausnahme. Der US-amerikanische Neurologe und Kinderarzt Alan Shewmon hat 1998 eine Studie durchgeführt, in der er mehr als 12 000 dokumentierte Fälle untersuchte, bei der Patienten das Abschalten der Beatmungsmaschinen länger als eine Woche überlebt hatten. Als verlässlich wertete er nur solche Fälle, bei denen der Hirntod korrekt diagnostiziert und dokumentiert worden war. Insgesamt fand er 175 Fälle, bei denen nach dem Abstellen der Beatmung nicht sofort der Tod eingetreten war. Zwischen Hirntod und Herzstillstand lag vielmehr ein Zeitraum von mehr als einer Woche bis hin zu 14 Jahren.

Am Ende sind jedoch alle Patienten gestorben.
Aber durch die untersuchten Fälle wird widerlegt, dass es einen unmittelbaren zeitlichen und kausalen Zusammenhang zwischen Hirntod und Tod gibt. Hirntote Kinder wachsen, sie kommen in die Pubertät, Jungen entwickeln Bartwuchs. Die Wunden von Hirntoten heilen, sie können Fieber bekommen. Männer könnten noch Kinder zeugen. In einer Studie wurden bis 2003 weltweit zehn Fälle dokumentiert, bei denen eine schwangere Hirntote ein Kind entbunden hat. Das zeigt, dass das Gehirn eben nur ein Teil des Körpers ist, der längst nicht die herausragende Funktion für die Organisation des gesamten Organismus besitzt. Hinzu kommt, dass sich mit neuen technischen Verfahren bei Patienten, die als hirntot diagnostiziert sind, ohnehin noch Aktivitäten im Gehirn nachweisen lassen.

Gibt es bei ihnen also doch noch eine Form von Bewusstsein?
Höchstwahrscheinlich nicht. Aber das ist für mich gar nicht der entscheidende Punkt. Für mich ist es völlig indiskutabel, jemanden nicht mehr als Menschen zu betrachten, nur weil ihm das Bewusstsein fehlt – auch wenn dieser Zustand irreversibel ist. Menschliches Leben ist in erster Linie an den menschlichen Organismus geknüpft. Wer warm ist, sich bewegt und sogar zeugungsfähig ist, ist ein Mensch, kein Toter. Auch das Argument, dass ein Hirntoter ja nur dank der Beatmung noch keine Leiche ist, kann ich nicht gelten lassen. Heute gibt es viele Fälle, in denen Menschen nur durch Maschinen überleben, denken Sie an Herzschrittmacher. Das Kriterium der Technisierung kann also kein Kriterium für den Tod sein.

Die Soziologin Gese Lindemann sagt: „Hirntote müssen heute weniger tot sein als früher.“ Was genau bedeutet das?
Es gibt einen Unterschied zwischen der 1968 vorgenommen Hirntod-Definition und der heute in Deutschland geltenden Lesart. Nach dem Harvard-Kriterium muss das gesamte zentrale Nervensystem ausgefallen sein, also auch das Rückenmark, das Bewegungen und Reflexe steuert. Nach dieser Definition ist der hirntote Mensch also völlig reglos. Das gilt heute nicht mehr. Laut Statistik werden bei drei Viertel aller Hirntoten Bewegungen beobachtet.

Die Medizin sagt, das seien Reflexe.
Was sicherlich stimmt. Aber hier sind wir wieder bei der Frage des Bewusstseins. Dass etwas unbewusst ausgelöst wird, heißt ja nicht, dass man nicht mehr lebt.

Nicht nur Philosophen und Soziologen stellen das Hirntodkonzept mittlerweile infrage, sondern auch Mediziner. In der Debatte über die Neuregelung der Organspende wurde das Thema jedoch ausgeblendet. Wie erklären Sie sich das?
Das hat mit der deutschen Vergangenheit zu tun. Die Euthanasie wie auch die Tötung von Menschen zum Zwecke der medizinischen Forschung lassen uns vor einer Debatte zurückschrecken. Wenn man anerkennen würde, dass Hirntote Sterbende sind, dann müsste man die Organspende als aktive Sterbehilfe werten. Und die ist hierzulande aus guten Gründen verboten.

Derzeit stehen etwa 12 000 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan, täglich sterben drei von ihnen, weil es nicht genug Organspender gibt. Würde die Medizin Ihren Überlegungen folgen, wäre die Lage bald noch dramatischer.
Die Zahl der Spender hat in den letzten Jahren gar nicht signifikant abgenommen. Doch der Bedarf an Organen ist stetig gestiegen. Viele Patienten bekommen ein zweites, drittes oder viertes Spenderorgan. Bekannt sind bis zu sieben Re-Transplantationen. Hinzu kommt, dass durch bessere Medikamente die Altersgrenze für Transplantationen steigt. Es ist also der Erfolg der Transplantationsmedizin selbst, der zu einem steigenden Bedarf an Organen führt.

Mit einer wachsenden Zahl an Spendern würde man diesen Bedarf decken können.
Wir müssen uns doch aber fragen dürfen, ob es nicht Alternativen gibt. Es sieht so aus, als sei der Organersatz per se von jeglicher Überprüfung und Kritik ausgenommen. Dabei kann man durchaus einmal die Frage stellen, wem die Transplantationsmedizin nützt.
Zuerst doch wohl demjenigen, der auf ein Spenderorgan wartet.
Aber denken Sie auch einmal an die Pharmaindustrie, die mit Medikamenten gegen eine Abstoßung gut verdient. Der Empfänger einer Spenderleber benötigt im Jahr Medikamente im Wert von 150000 Euro.

Soll man ihn lieber sterben lassen? Was wären denn die Alternative?
Wir brauchen langfristige Strategien, die schon bei der Prävention ansetzen. Die meisten Erkrankungen, die heute zu Transplantationen führen, sind sogenannte Zivilisationskrankheiten, also Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes, die durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel gefördert werden, sowie Alkohol- oder Tablettenmissbrauch. Außerdem müssen wir alternative Therapien fördern, die heute häufig gar nicht erst unternommen werden, weil eine Transplantation als Nonplusultra gilt. Wir müssen auch mehr in die Forschung und Entwicklung von Kunstorganen investieren und die Stammzellenforschung vorantreiben.

Das hilft den Menschen nicht, die heute auf ein Organ warten. Haben Sie nicht die Sorge, dass durch die öffentlich vorgetragenen Zweifel am Hirntodkonzept die Zahl der Organspender weiter sinkt?
Aber wir können die Leute doch nicht im Unklaren lassen! Nur Menschen, die angemessen aufgeklärt sind, können sich wirklich selbstbestimmt für die Spende eines Organs entscheiden. Wenn die Gesellschaft von ihren Bürgern etwas will, dann muss man ihnen offen und ehrlich sagen, worum es genau geht. Wer als Bürger seine Organe spenden will, obwohl er weiß, dass er als Hirntoter nicht tot ist, soll das machen. Ich befürchte zudem, dass mit den Jahren auch in Deutschland die aktive Sterbehilfe gesellschaftlich akzeptiert sein wird. Und die Menschen, die sich für den medizinisch assistierten Suizid entscheiden, werden leichter bereit sein, ihre Organe zu spenden.

Der Bundestag wird jetzt beschließen, dass die Krankenkassen ihre Mitglieder künftig regelmäßig mit dem Thema Organspende konfrontieren müssen. Diese sogenannte Entscheidungslösung soll zu einer höheren Zahl an Spendern führen.
Selbst wenn sich die gesamte Bevölkerung Deutschlands zur Spende bereit erklären würde, gäbe es nicht genügend Organe. Jährlich werden nur etwa 4 000 bis 5000 Hirntote in Deutschland gezählt. Zum Glück, kann man sagen. Die Zahl der potenziellen Spender sinkt wahrscheinlich sogar weiter, weil es den sprichwörtlichen Organspender, also den verunglückten Motorradfahrer, Gott sei dank seltener gibt.

Aber je mehr potenzielle Spender einen Ausweis tragen, desto mehr Spenderorgane gibt es am Ende dann doch. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Patientenverfügungen, die ja für die Ärzte rechtlich verbindlich sind?
Vielen ist gar nicht bewusst, dass ihre Patientenverfügung im Widerspruch zu einem Ja auf dem Organspendeausweis steht. Wenn Sie am Ende Ihres Lebens nicht von Apparaten abhängig sein wollen, scheiden Sie als Spender praktisch aus. Denn dann werden Sie nicht mehr intensivmedizinisch betreut und intubiert, also beatmet. Nur auf der Intensivstation können Sie den Hirntod erleiden. Als Organspender nehmen Sie in Kauf, dass Ihr eigenes Sterben verlängert wird. Das ist genau das Gegenteil dessen, was viele in ihrer Patientenverfügung festgelegt haben. Auch hier zeigt sich, wie problematisch es ist, dass es keine offene und sachliche Debatte über die Organspende gibt.

Letztlich geht es um mehr als das.
Es geht um elementare Fragen des Zusammenlebens. Wie wollen wir mit kranken und sterbenden Menschen umgehen, wie mit Gesunden? Dürfen wir Begehrlichkeiten wecken, die Menschen dem moralischen Anspruch aussetzen, Teile ihres Körpers spenden zu sollen? Welchen medizinischen Fortschritt wollen wir? Das sind keine Fragen für Expertengremien. Das muss man öffentlich diskutieren.