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Fotostrecke

Aufwachsen in Israel: Zwischen Kindheit und Krieg

Foto: Angelika Sher

Kinder in Israel "Sie müssen lernen, ihre Angst zu beherrschen"

Ausdrucksstarke Porträts aus einem Land im Ausnahmezustand. Angelika Sher hat israelische Kinder und Jugendliche fotografiert. Sie alle wachsen mit einem doppelten Konflikt auf: Sie versuchen sich von den Eltern zu lösen. Und dann ist da noch der Krieg.

SPIEGEL ONLINE: Sie zeigen in der Serie "13" israelische Jugendliche, die an der Schwelle zum Erwachsensein stehen. Wie reagieren die auf die Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina?

Sher: Der Konflikt ist Teil ihres Lebens. Die jetzige Situation ist sehr stressig, manchmal fallen fünf Bomben zur gleichen Zeit. Besonders schlimm ist es an Orten, die nahe am Gazastreifen liegen. Wenn ein Alarm kommt, haben die Menschen nur 15 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

SPIEGEL ONLINE: Wie wirkt sich das aufs Erwachsenwerden der Kinder aus?

Sher: Sie haben trotzdem eine glückliche Kindheit, und ihnen ist sehr wohl bewusst, was Frieden ist. Sie müssen lernen, ihre Angst zu beherrschen. Natürlich werden sie so schneller erwachsen.

Foto: Angelika Sher

Angelika Sher wurde 1969 im damals zur Sowjetunion gehörenden Litauen geboren. Sie wanderte nach Israel aus und studierte Fotografie in Jerusalem. In ihren Arbeiten setzt sie sich mit Themen wie dem Erwachsenwerden, dem Finden der sexuellen Identität oder der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft auseinander. Sie fotografiert dabei aus der Sichtweise einer Mutter, einer Frau und einer Immigrantin. Sher lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in der Nähe von Tel Aviv.

SPIEGEL ONLINE: Auf Ihren Bildern zeigen Sie gelangweilte Kinder und Jugendliche, die am Küchentisch sitzen, Mädchen und Jungen, die durch ein Fenster klettern. Viele schauen sehr traurig. Warum?

Sher: Ich wollte die ernsthafte Seite der Kinder zu zeigen. Sie fühlen sich verloren. Sie glauben, niemand würde sie verstehen. Sie verbringen lieber Zeit mit ihren Freunden als mit der Familie. Für Eltern ist das schwer, auch sie fühlen sich sehr einsam und denken, sie würden die Nähe zu ihren Kindern verlieren.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Serie heißt "13". Was fasziniert Sie so sehr an dem Alter?

Sher: Als ich mit der Serie begonnen habe, war meine älteste Tochter 13 Jahre alt. Das war im Jahr 2008. Ich habe bei ihr gespürt, wie sie sich immer mehr von mir entfernt. Auch sie rebellierte damals. Auf einem Bild sieht man sie in einer provokanten Pose und mit einem Schriftzug, den sie sich auf den Arm gemalt hat. Das sollte so aussehen wie ein Tattoo. Kinder in diesem Alter wollen unabhängig sein, sie protestieren mehr gegen ihr Umfeld. Sie sind aggressiver.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Sher: Sie müssen sich mehr behaupten und jedem beweisen, dass sie schon erwachsen sind. Aber Konflikte reißen sie auseinander: Einerseits fühlen sie sich erwachsen, andererseits sind sie noch Kinder.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie 13 Jahre alt waren?

Sher: Da war ich ein verwirrter Teenager. Ich hatte nur eines im Sinn: Ich wollte anders sein. Und ich habe mich von meinen Eltern distanziert. Von den anderen wurde ich nicht akzeptiert, weil ich anders aussah. Ich war ein Außenseiter. Ich wollte rebellieren. Das hab ich zunächst durch meine Kleidung ausgedrückt. Ich zog mich sehr modebewusst an, sehr rockig. Das löste in der UdSSR, in der wir damals lebten, bereits Unverständnis aus. Damit zeigte man schon, dass man gegen das System war.

SPIEGEL ONLINE: In welchen Verhältnissen sind Sie aufgewachsen?

Sher: Ich habe mit meinen Eltern in einer Wohnung in Vilnius gelebt. Ich habe damals von weiten Reisen geträumt, aber das schien wegen des Eisernen Vorhangs unmöglich. Es war damals nicht einfach für uns. Das Land war arm, wir waren auf Kleiderspenden angewiesen. Vielleicht war es aber auch einfacher als für die Kinder heute.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Sher: Sie werden von Werbung beeinflusst und Reality-TV, von Facebook und Computerspielen. So viel Information, die sie verarbeiten müssen.

SPIEGEL ONLINE: Welche Kinder haben Sie fotografiert?

Sher: Meine drei Kinder sind dabei, verwandte Kinder, welche aus der Nachbarschaft. Ich habe nicht nur in Israel fotografiert, sondern auch in Litauen. Ich habe das Gefühl, die israelischen Kinder sind offener und haben mehr Temperament als litauische Kinder, diese sind schüchterner.

SPIEGEL ONLINE: War es eigentlich schwer, gelangweilte und rebellierende Teenager aufs Bild zu bekommen?

Sher: Och, ich habe sie spielen und herumtoben lassen, manchmal habe ich sie dann gebeten, sich irgendwo hinzusetzen. Einmal habe ich auch beobachtet, wie Kinder mit ein paar Möbelstücken spielten. Sie waren gerade dabei, sie aus dem Fenster zu hieven, und ein Kind kletterte auch aus einem Fenster, da habe ich gefragt, ob ich ein Foto machen dürfte. Dagegen hatten sie nichts.

SPIEGEL ONLINE: Auf einem Bild sieht man auch einen orthodoxen Jungen.

Sher: Das ist mein Sohn. Er ist nicht orthodox, sondern hat diese Kleidung einfach nur so angezogen. Das war in den Ferien. Alle Kinder haben ihre Kleider getauscht. Er fand das sehr komisch, er hat sich wie jemand ganz anderes gefühlt. So wie Superman.

Das Interview führte Kristin Haug für das Fotoportal seenby 

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Foto: seen.by