Geburtstag der Kirche

4. Juni 2017


Dass ein Wort mehrere verschiedene Bedeutungen hat, macht den Umgang mit ihm manchmal etwas schwierig, da Missverständnisse vorprogrammiert sind. In solchen Fällen blickt man sehnsüchtig in andere Sprachräume, in denen den unterschiedlichen Bedeutungen auch entsprechend unterschiedliche Begriffe zugewiesen sind. Man denke etwa an das deutsche Wort Glück, das im Englischen „luck“ oder „happyness“ heißt, je nach dem, ob es um das Schießen eines Elfmeters (wozu es „luck“ braucht) oder das Schließen einer Ehe geht, die „happyness“ in Aussicht stellt. Oder man denke an den Himmel, der sich mit „sky“ oder „heaven“ ins Englische übersetzen lässt, abhängig davon, ob der physische oder der metaphysische Kontext angesprochen werden soll.

Kirche ist auch so ein Wort. Kirche ist Gemeinschaft der Gläubigen (also: die christliche Gemeinde – in diesem Sinne kann man zum Beispiel von „Urkirche“ sprechen), Kirche ist Organisationseinheit der christlichen Bevölkerungsgruppe in Deutschland (insoweit ist sie „Großkirche“, „Landeskirche“, „Freikirche“ etc.) und Kirche ist das Gebäude, in dem der christliche Glaube gefeiert wird (dann kann sie romanisch oder gotisch sein oder ein „moderner“ Rundbau, aus dem Barock oder aus dem Kulturkampf). Man kann als Christ nicht nur „in der Kirche“ Mitglied sein, man kann „Kirche sein“. Man kann aus der Kirche „ausziehen“ oder „austreten“. Die Wortspiele ließen sich beliebig fortsetzen, würden aber sicher bald langweilen.

Mit diesen Bedeutungsunterschieden wird zugleich ein Bewertungsmaßstab mitgeliefert. Sieht man Kirche als Institution mit düsterer Vergangenheit, als „Gemeinschaft der Sünder“ in Raum und Zeit und heute dementsprechend als eine gesellschaftliche Einrichtung auf dem Niveau von Gewerkschaften, Parteien oder Vereinen? Oder in ihrer kultur- und kunsthistorischen Bedeutung für das Abendland? Oder aber sieht man Kirche als von Christus gestiftete und daher mit Gott verbundene Gemeinde, eine „Gemeinschaft der Heiligen“, die Raum und Zeit überwindet? Das sind drei völlig unterschiedliche Kirchenbegriffe, die alle drei im Diskurs um Kirche, Christentum und Religion vorkommen.

Ausgehen muss man wohl vom biblisch-christlichen Verständnis von Kirche, also von der Gemeinde, deren Mitglieder sowohl untereinander verbunden sind als auch gemeinsam mit Gott. Das ist wichtig, denn Christsein ist ohne Gemeinde nicht möglich, ohne kirchliche Gemeinschaft. Umgekehrt reicht das Zusammensein von Menschen alleine nicht aus. Menschliche Gemeinschaft gibt es auch beim Fußball – in guten, wie in schlechten Tagen. Die menschliche Gemeinschaft in der Kirche ist damit zwar notwendig für das Christentum, aber lange noch nicht hinreichend. Kirchliche Gemeinschaft geht über das Zusammensein von Menschen hinaus, sie ist Gemeinschaft mit Gott, die eine neue Qualität von menschlicher Gemeinschaft ermöglicht.

Der Katechismus der Katholischen Kirche bezeichnet die Kirche als „das Volk, das Gott in der ganzen Welt versammelt“ und sich dabei „als liturgische, vor allem als eucharistische Versammlung verwirklicht“ (Nr. 752). Bilder für die Kirche sind „Schafstall“ (Nr. 754), „Acker Gottes“ (Nr. 755) und „Bauwerk Gottes“ (Nr. 756). Bei letzteren Metaphern lässt sich die Dynamik der stetigen Veränderung der Kirche erahnen: Ecclesia semper reformanda est. Liturgische Lieder zum Thema „Kirche“ nehmen diese Bilder auf poetische Weise auf, verdichten gleichsam die Ekkelsiologie. In den Gesängen des Gotteslob ist von der Kirche als einer Stadt die Rede, die „vom Himmel niedergeht in die Erdenzeit“ (Nr. 479). Die Kirche ist insoweit „ein Haus voll Glorie“, das „von Gottes Meisterhand“ erbaut wurde, „aus ewgem Stein“ (Nr. 478). Und es ist ein Haus für alle: „Gott ruft sein Volk zusammen rings auf dem Erdenrund“ (Nr. 477).

Dann gibt es einen Zusammenhang zwischen Kirchengemeinde und Kirchengebäude. Das Gebäude als Ort der Gegenwart Gottes lebt von der Gemeinde, von der Feier der Eucharistie. Zugleich lebt auch die Gemeinde vom Gebäude, wenn dieses die liturgischen Riten und sakramentalen Handlungen mit seiner räumlichen Gestalt unterstützt. Seit ich die Sagrada Família in Barcelona kenne, bin ich sogar der Ansicht, dass ein Gebäude die Gemeinde – in der Dimension der Gemeinschaft mit Gott – stärken kann, ja, dass es geradezu pastorale Wirkung entfaltet.

Schließlich tritt der Institutionsgedanke hinzu. Eine Gemeinde braucht, solange sie auch in der Welt steht, eine Organisationsform. Dazu gibt es – je nach Konfession – unterschiedliche Modelle. Dass der Streit um die beste Organisationsform ein theologischer ist, zeigt deutlich, dass es mitnichten für den Glauben egal ist, wie sich die Gemeinde in der Welt konstituiert. Das Institutionelle kann den Gemeinschaftsaspekt in die eine oder andere Richtung biegen, zur menschlichen Gemeinschaft, also zur Beziehung zwischen den Gemeindemitgliedern, oder zur Gemeinschaft mit Gott, zur Gottesbeziehung.

Kirche als Institution ist nicht vollkommen apolitisch, das kann sie in der Welt auch gar nicht sein. Von daher besteht immer die Gefahr, dass sie zu politisch wird, sich zu sehr einlässt auf die Welt und dabei ihre Bindung zu Gott mehr und mehr löst. Es ist gut, wenn die Kirche auf Prozesse der politischen Meinungs- und Willensbildung einwirkt, sich einmischt in Debatten. Niemals sollte der Institutionsgedanke aber die Gemeinschaftsidee überlagern, denn das hätte zur Folge, dass die Kirche am Ende nur noch als „Subsystem des Politischen“ (Udo Di Fabio) wahrnehmbar wäre. Also: Auch wenn sie sich im öffentlichen Diskurs auf einen Austausch mit solchen Subsystemen einlässt, muss die prinzipielle Differenz ihrer Mission zu der Aufgabe von Parteien, Gewerkschaften und Interessengruppen stets deutlich werden: das Reich ihres Stifters ist nicht von dieser Welt. Insoweit kann ihre Identität auch nicht vom Ladenschlussgesetz abhängen.

Die Gegenwart muss die Katholische Kirche als Institution vor dem Hintergrund ihrer Geschichte gestalten. Dazu gehört es auch, die Fehler, die Menschen in ihr gemacht haben, einzugestehen. Die Zukunft der Kirche liegt aber nicht darin, sich auf diese schwarzen Flecke zu fixieren und in einer Schuldstarre handlungsunfähig zu werden, auch nicht darin, sie zu bleichen, sondern den weißen Hintergrund nach vorne zu stellen, im Bewusstsein der Tatsache, dass die Kirche nicht von Menschen (auch nicht vom jeweiligen Papst), sondern vom Heiligen Geist gelenkt wird.

Das ist vielleicht überhaupt die Erklärung, warum es die Kirche heute noch gibt, trotz der zahlreichen Irr- und Umwege, trotz der vielen weltlichen Einflüsse: weil letztlich der Heilige Geist ihr die Richtung vorgibt. Das Kirchenschiff ist stabil genug, um auch bei hohem Wellengang nicht zu kentern. Es hält die Richtung, weil die Wasserstraße ins Meer führt. Der Heilige Geist führt die Kirche zum Ziel. Aber sie, die Wasserstraße, ist breit genug, dass die Kapitäne einen Zick-Zack-Kurs fahren können – und sie tun es, in ihrer menschlichen Fehlbarkeit. Und die Matrosen machen mit. Also: Gerade die Tatsache, dass die Katholische Kirche trotz all ihrer Fehler immer noch existiert, zeigt eindrucksvoll, dass sie mehr ist als eine menschliche Institution. Sie ist Gemeinschaft in und um Christus, Gemeinschaft, die vom Heiligen Geist inspiriert und auf Gott, den Ewigen Vater, ausgerichtet ist.

Der Heilige Geist lenkt und leitet, und dennoch sind wir als Christen gemeinsam Kirche. Das Apostelkonzil in Jerusalem verwandte die Formel: „Der Heilige Geist und wir haben beschlossen“ (Apg 15, 28). Der Heilige Geist und wir – das ist die Kirche. Der Heilige Geist lenkt und leitet, doch wir müssen Ihm folgen. Das geschieht immer dann, wenn in der Kirche die Liebe wirkt. Denn es gilt: „Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand“ (1 Kor 13, 7). So kann die Kirche der Sünder am Ende doch als Heilige Kirche betrachtet werden – als Heilige Kirche der Sünder. Und die hat heute Geburtstag.

Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche als Gemeinschaft im Glauben. Durch das Wunder des Heiligen Geistes entsteht Verständnis jenseits der sprachlichen Verständigung. Die Kirche vereinheitlicht jenseits von Kommunikation. Durch die Liebe. Der Kirchenvater Augustinus sagt: „Was der Turmbau zu Babel zerstreute, das sammelt die Kirche. Aus einer Sprache wurden damals viele Sprachen. Wundere dich nicht, das hat der Stolz getan. Aus vielen Sprachen wurde an Pfingsten eine Sprache. Wundere dich nicht, das tut die Liebe.“

Eine solche Kirche, die über alle ethnischen und sprachlichen Grenzen hinweg Verständigung schafft, die allgemein und allumfassend (also: katholisch) ist, eine solche Kirche ist in der Tat mehr als eine Institution, weil sie ein Mysterium feiert, das menschlich und göttlich zugleich ist: Jesus Christus, den fleischgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Gott. Weil sie dieses Geheimnis des Glaubens birgt und es in den Sakramenten erfahrbar macht – hier und jetzt, all denen zum Zeichen der Gnade und Gegenwart Gottes, die zu ihr kommen, nicht nur als „Kirchenbesucher“, nicht nur als „Kirchenmitglieder“, sondern als Christen in der Nachfolge. Als solche dürfen wir die Kirche heute feiern.

(Josef Bordat)

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