„Anarchie“ im Irak: Hunderttausend auf der Flucht

Von „Anarchie“ im Nordirak spricht der christlich-chaldäische Patriarch Louis Rafael I. Sako. Im gesamten Irak sind hunderttausend Christen auf der Flucht vor den vorrückenden Dschihadisten der Terrormiliz IS.

Die irakischen Städte Karakosch, Tel Kaif, Bartella und Karemlesch stehen „unter der Kontrolle militanter Kämpfer“, sagte der Erzbischof von Kirkuk und Sulaimanija, Josef Thomas, am Donnerstag. US-Präsident Barack Obama gab am Donnerstag (Ortszeit) grünes Licht für Luftangriffe gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Nordirak, um in der Region eingesetzte US-Militärberater zu schützen und ein Massaker an der Zivilbevölkerung zu verhindern. Außerdem ordnete er den Abwurf von Hilfsgütern für die belagerte religiöse Minderheit der Jesiden an - mehr dazu in Religiöse Minderheit der Jesiden im Visier von IS.

Die Kämpfer von IS seien dabei, Kreuze aus den Kirchen des Landes abzunehmen und religiöse Schriften zu verbrennen, sagte des oberste geistliche Führer der chaldäischen Minderheit, Patriarch Sako, am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Im nordirakischen Sindschar seien 70 Angehörige der Jesiden getötet worden, so Sako gegenüber dem Sender Radio Vatikan (Mittwoch). Unterdessen sei auch Tel Kaif, etwa 20 Kilometer nördlich von Mossul, beschossen worden. Nach Angaben Sakos kam dabei ein Christ ums Leben.

Papst fordert Irak-Einsatz

Papst Franziskus rief am Donnerstag die internationale Gemeinschaft in einem flammenden Appell zu einem verstärkten Einsatz für die von Gewalt und Vertreibung betroffenen Menschen im Nordirak auf. Dem humanitären Drama in der Region müsse ein Ende bereitet werden, heißt es in dem am Donnerstag von Vatikan-Sprecher Federico Lombardi verlesenen Aufruf. Von dem Konflikt seien eine wehrlose Bevölkerung und dabei vor allem christliche Gemeinschaften betroffen, ein Volk fliehe aus seinen Dörfern.

Hilfsappell an Papst Franziskus

Sako hatte am Mittwoch einen Hilfsappell an Papst Franziskus und die Patriarchen des Nahen Ostens gerichtet. Es gelte, mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft „Druck auf die Länder auszuüben, die diese terroristischen oder extremistischen Gruppen finanzieren“.

Jesiden-Familie auf der Flucht vor IS-Miliz

Reuters/Stringer

Familie auf der Flucht vor der IS-Miliz

Zugleich sollten islamische Autoritäten gedrängt werden, Angriffe auf Christen und andere Nichtmuslime zu verurteilen. „Auf menschlicher Ebene sind wir eine Familie“, so das Oberhaupt der katholischen Kirche im Irak.

„Der Nahe Osten steht in Flammen“

Im Nordirak herrsche Anarchie, sagte der Patriarch. Im Nordirak herrsche Anarchie, sagte der Patriarch. Im Nordirak herrsche Anarchie, sagte der Patriarch. „Heute sind wir ein Ziel, weil wir Christen sind, aber es gibt auch noch andere Ziele“, sagte er mit Blick auf die jüngsten IS-Angriffe. Zur Lage der ganzen Region äußerte er sich pessimistisch. Es gebe keine Zukunftsperspektive. „Der Nahe Osten steht in Flammen, im Libanon, in Palästina. Wohin führt das?“, fragte Sako.

Papst Franziskus habe ihm persönlich Mut zugesprochen, sagte der Patriarch. „Er hat mich angerufen und ermutigt, nicht aufzugeben, am Glauben, der Hoffnung und auch der Moral festzuhalten.“

„Eine Katastrophe“

Erzbischof Joseph Thomas sagte zu AFP: „Es ist eine Katastrophe, eine tragische Situation. Wir rufen den UNO-Sicherheitsrat auf, sofort einzuschreiten.“ Mehrere Bewohner der Gegend berichteten ebenfalls, dass die zwischen der nordirakischen Stadt Mossul und Kirkuk gelegene Region unter der Kontrolle der Terrorgruppe IS sei. Karakosch ist die größte christlich geprägte Stadt im Irak. Kurdische Truppen hätten sich in der Nacht aus dem Ort und umliegenden Gegenden zurückgezogen, wie flüchtende Bewohner sowie Thomas angaben.

Kurdische Paschmerga-Kämpfer im Irak

Reuters/Stringer

Kurdische Paschmerga-Kämpfer in der Provinz Ninive

Die mehrheitlich christliche Ortschaft Tel Kaif sei ebenfalls von IS-Kämpfern übernommen worden, nachdem sie dort stationierte kurdische Soldaten zuvor vertrieben hätten. Das berichteten geflohene Bewohner der Nachrichtenagentur dpa. Die Angreifer hätten Tel Kaif in der Nacht auf Donnerstag eingenommen, sagte ein Bewohner. Die meisten Familien seien daraufhin in die zum kurdischen Autonomiegebiet gehörende nördliche Provinz Dohuk geflohen. Damit sind die vor allem von Christen bewohnten Gebiete rund um Mossul in Hand der dschihadistischen Terrorgruppe.

Hunderttausende fliehen

Tel Kaif liegt rund 20 Kilometer nördlich von Mossul, das für die IS-Gruppierung zur Operationsbasis wurde, nachdem die Terrormiliz die Stadt Anfang Juni komplett erobert hatte. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen bisher rund 200.000 Menschen aus Angst vor der Schreckensherrschaft der IS-Extremisten.

Die nahe der Stadt Kirkuk gelegene Region Makhmur (Machmur) und die Ortschaft Al-Kwair (Al-Kuwair) befinden sich Augenzeugen zufolge ebenfalls unter Kontrolle der IS-Kämpfer. Das berichteten sie der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag.

Am Wochenende hatten die IS-Kämpfer den kurdischen Peschmerga-Milizen im Norden eine empfindliche Niederlage beigebracht. Die IS-Dschihadisten hatten drei Städte, den Mossul-Staudamm sowie ein Ölfeld samt Raffinerie erobert. Daraufhin hatten die Kurden eine Gegenoffensive angekündigt.

religion.ORF.at/APA/AFP/dpa/Reuters/KAP

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