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Meinung Bevormundung

EU wird zur Sowjetunion mit menschlichem Antlitz

Reporter
Lenin und Stalin auf einer Flagge im Stalingrader Kriegsmuseum Lenin und Stalin auf einer Flagge im Stalingrader Kriegsmuseum
Lenin und Stalin auf einer Flagge im Stalingrader Kriegsmuseum
Quelle: Getty Images/Lonely Planet Images
Aus der europäischen Idee ist eine totalitäre Ideologie mit einem gefährlichen Hang zur umfassenden Bevormundung von allem und jedem geworden. Es gibt viele Gründe, besorgt und pessimistisch zu sein.

Es liegt was in der Luft. Der Wind raschelt in den Baumkronen, die Frettchen verziehen sich in ihre Bettchen und die Menschen schauen besorgt zum Himmel, obwohl die Meteorologen für die kommenden Tage Entwarnung gegeben haben. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Der Wahlkampf kommt langsam in die Gänge, es geht um soziale Gerechtigkeit, Umfairteilung, Lebensmittelkontrollen, Kita-Plätze für alle Kinder, den Schutz der Privatsphäre vor dem elektronischen Datenklau.

Ein Thema freilich kommt kaum zu Sprache: Europa. Es wird weitgehend beschwiegen, obwohl die letzte Euro-Krise gerade ein paar Wochen alt ist und sich die Zeichen mehren, dass demnächst ein neues, Milliarden schweres „Hilfspaket“ für Griechenland geschnürt werden muss. Das freilich, ebenso wie die vorausgegangenen Hilfspakete, nicht den Not leidenden Griechen zugute kommen wird, sondern den Banken, die den Griechen Kredite gegeben haben und in eine Schieflage geraten sind.

Bis auf die „Alternative für Deutschland“ machen alle Parteien einen Bogen um „Europa“, obwohl sich alle in ihren Programmen zu „Europa“ bekennen - zur europäischen Integration mit dem Ziel, eines Tages die „Vereinigten Staaten von Europa“ ausrufen zu können, als politischen Gegenpol und ökonomisches Gegengewicht zu den „Vereinigten Staaten von Amerika“.

Stillhalteabkommen zwischen den Parteien

Der Slogan „Mehr Europa wagen“ war vor einem Jahr noch in aller Munde. Warum also hören wir derzeit nichts von den grandiosen Zukunftsplänen, die unser Leben von Grund auf verändern sollen? Warum besucht die Kanzlerin ein ehemaliges Konzentrationslager, um dort über die Schrecken der Vergangenheit zu sprechen? Und warum lesen führende Sozialdemokraten – Gabriel, Steinbrück, Steinmeier – bei einem Straßenfest Kindern die Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten vor? Weil sie von dem Satz „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ so angetan sind, als wäre es ihre eigene Perspektive für die Zeit nach den kommenden Wahlen?

Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien, nicht einmal an Verabredungen im politischen Geschäft, wo jeder sich selbst der Nächste ist. Aber in diesem Fall könnte man tatsächlich vermuten, es gäbe so etwas wie ein Stillhalteabkommen zwischen den Parteien: Sagst du nichts, sage ich auch nichts. Denn wer zuerst etwas sagt oder sich bewegt, setzt eine Lawine in Bewegung.

Schließlich hat die Kanzlerin in den vergangenen Monaten immer wieder erklärt: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ War es nur eine taktische Drohgebärde, um ihre Politik der Alternativlosigkeit durchzusetzen, oder hängt das Überleben Europas tatsächlich vom Fortbestand des Euro ab? Immerhin hat es Europa schon gegeben, bevor der Euro 2002 eingeführt wurde. Sollte der Euro eines Tages wieder abgeschafft werden, denn nichts währt ewig, wird es Europa weiter geben, wenn auch in einer anderen Form als von den Brüsseler Eurokraten anvisiert.

Einflussloses EU-Parlament

Mir ist klar, dass ich mich mit solchen Sätzen bereits als „Europakritiker“, „Europaskeptiker“, wenn nicht gar als „Europagegner“ geoutet habe. Der Glaube an Europa ist zu einer Art weltlicher Religion geworden, deren erstes Gebot lautet: „Du sollst alles hinnehmen, was in Brüssel verkündet wird!“ Wer es nicht tut, der gilt als Häretiker. Er wird nicht, wie zur Zeit der Inquisition, den Flammen übergeben, sondern schlimmstenfalls zu „hart aber fair“ eingeladen, wo ihm klar gemacht wird, sollte Europa den Bach runter gehen, dann seien daran die Kritiker schuld, die Europa kaputtgeschrieben hätten.

So funktionieren alle totalitären Systeme. Sie treten mit dem Vorsatz an, die Menschen zu beglücken; und wenn diese eine andere Vorstellung von Glück haben als diejenigen, die ihnen zum Glück verhelfen wollen, dann muss nachgeholfen werden, bis auch der letzte Skeptiker begreift, dass er besser mit als gegen den Strom schwimmen sollte.

Die EU ist auf dem besten Wege, zu einer Sowjetunion mit menschlichem Antlitz zu werden. Natürlich ohne Arbeitslager, ohne Folter und ohne Mangel an Konsumgütern. Allerdings mit einer „Gewaltenteilung“, die den Begriff verspottet. Das EU-Parlament hat weitgehend eine dekorative Funktion, es verabschiedet vor allem Resolutionen. Die Macht liegt bei der Kommission, die als Legislative und Exekutive agiert, ein Novum in der Geschichte „demokratischer“ Institutionen, die sich gegenseitig überwachen und kontrollieren sollten.

Brüsseler Regulierungswahn

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28 Volkskommissare, deren Kompetenzen nicht klar definiert sind, die sich zum Teil überschneiden und zum Teil widersprechen – der eine Kommissar fördert den Tabakanbau, der andere finanziert Aufklärungskampagnen über die Gefahren des Tabakkonsums – sind damit beschäftigt, das Leben von 500 Millionen Europäern zu reglementieren. Von Lappland bis Kalabrien, von den Masuren bis zur Algarve sollen die Menschen die gleiche Glühbirnen benutzen. Sie sollen, unabhängig von der Lage im jeweiligen Land, Strom und Wasser sparen, ihre Autos in gleichen Zeitabständen zum TÜV bringen und vor dem Einkaufen die „EU-Leitlinien für die Etikettierung“ von Produkten auswendig lernen.

Der Regulierungswahn der Eurokraten dient nicht der Verbesserung der Lebensqualität; er hält nur einen Apparat in Schwung, der sich zu einem Staat über den Staaten entwickelt hat: 28 Volkskommissare, 754 Abgeordnete und fast 50.000 Beamte und Angestellte, die sich ständig etwas Neues einfallen lassen, um ihre Existenz zu rechtfertigen, zum Beispiel eine Regelung, wonach für zuckerfreien Kaugummi, der zur „Erhaltung der Zahnmineralisierung“ beiträgt, nur mit dem Zusatz geworben werden darf, „dass sich die positive Wirkung bei mindestens 20-minütigem Kauen nach dem Essen oder Trinken einstellt“.

Während also die Lebensbedingungen in Europa homogenisiert werden sollen, wollen die Europäer lieber diversifizieren. Die Eurokraten rühren einen Eintopf an, derweil Europa sich in einen Fleckenteppich verwandelt. Sogar kleine Ethnien, wie die Kosovaren, die Mazedonier und die Montenegriner, streben die Unabhängigkeit an. Haben im Jahre 1988, also kurz vor der Zeitenwende, 33 Nationen bzw. Landesverbände an der Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft teilgenommen, so waren es 2012 bereits 53, darunter solche Exoten wie Moldawien und die Faröer.

Und es gibt nichts, das dagegen sprechen würde. Der Versuch, Unterschiede einzuebnen, führt zwangsläufig zum Gegenteil. Es gibt keine europäische Nation, keine europäische Identität und kein europäisches Narrativ. Keine europäische Außenpolitik und kein Europa-Gefühl, das zu mehr taugt, als sich von den USA abzugrenzen. Europa ist bestenfalls eine Freihandelszone, ein Binnenmarkt mit offenen Grenzen. Das sollte genug sein.

Henryk M. Broders neues Buch „Die letzten Tage Europas“ ist ab dem 26. August 2013 im Buchhandel erhältlich. Sonntag lesen Sie auf welt.de, wie Henryk Broder Europa für sich entdeckte.

Henryk M. Broder und sein Freund, der ägyptische Publizist Hamed Abdel-Samad, auf Euro-Safari
Henryk M. Broder und sein Freund, der ägyptische Publizist Hamed Abdel-Samad, auf Euro-Safari
Quelle: Preview Production

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