Das wichtigste Gebot

8. Juni 2017


Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen. (Markus 12, 28-34)

Der Schriftgelehrte hat einem Streitgespräch zugehört, das Jesus mit einigen Sadduzäern führte. In diesem ist Jesus sehr überzeugend den Zweifeln der Sadduzäer im Hinblick auf die Auferstehung begegnet. Das hat ihn beeindruckt, den Schriftgelehrten, der – folgt man der Konkordanzstelle bei Matthäus (Mt 22, 34-40) – zu den Pharisäern gehörte.

Nun will er aber mit seiner Frage nach dem wichtigsten Gebot nicht wissen, ob Jesus auch juristisch was drauf hat, sondern inwieweit Jesus die Tradition des Gesetzes achtet, und zwar in der strengeren Version der Gesetzesinterpretation. Die Sadduzäer, das waren in Sachen Gesetzesauslegung eher die leichteren Gegner, aber jetzt kommt eben ein Pharisäer.

Also: Steht Jesus in Treue zur Gesetzesorientierung der jüdischen Lebensform oder bricht er mit ihr? Antwortet er vielleicht auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot: „Ach, eure Gesetze, die könnt ihr alle vergessen!“ Dann wäre der Bruch vollzogen.

Doch Jesus steht in der jüdischen Tradition. Er hält am Gesetz fest, akzentuiert aber eindeutig: Im Zentrum steht das Dreifachgebot der Liebe: Liebe Gott, liebe deinen Nächsten und liebe dich selbst. Da muss ihm der Schriftgelehrte beipflichten: „Sehr gut, Meister!“

Alles muss von diesem Gebot aus gedeutet werden, jede einzelne Vorschrift, jeder einzelne Fall. Alles hängt an diesem Liebesgebot, das Gesetz und die Propheten, alles, was das Judentum ausmacht. Die Liebe ist mehr wert als alle Opfer.

Die Liebe wird bei Jesus zum Deutungsprinzip der Normativität, sie wird zur Meta-Norm der Lebensführung. Und das sollte sie für uns Christen heute auch sein, damit auch wir „nicht fern vom Reich Gottes“ sind.

(Josef Bordat)

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