Barmherzig sollen die anderen sein

Vom Solidarismus zur staatlichen Barmherzigkeit: Die gegenwärtige katholische Soziallehre ruht auf einem wackeligen Fundament.

Martin Rhonheimer
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Kann tätige Barmherzigkeit eine Aufgabe des Staates sein? Strassenszene in Madrid: Habe und Gefährte eines Obdachlosen. (Bild: Emilio Morenatti / AP)

Kann tätige Barmherzigkeit eine Aufgabe des Staates sein? Strassenszene in Madrid: Habe und Gefährte eines Obdachlosen. (Bild: Emilio Morenatti / AP)

Als «Mutter aller Sozialenzykliken» wurde die päpstliche Enzyklika «Rerum novarum», deren Erscheinen sich heuer zum 125. Mal jährt, allerorts gepriesen. Die zahlreichen Würdigungen des von Papst Leo XIII. 1891 veröffentlichten Lehrschreibens durchzieht ein gemeinsamer Tenor: Die im Laufe des 20. Jahrhunderts gewachsene – und bis heute gültige – katholische Soziallehre mit ihrer zunehmenden Befürwortung des umverteilenden Sozialstaates sei nichts anderes als eine bruchlose Weiterentwicklung der Ansätze dieser ersten Sozialenzyklika. Doch hält diese Einschätzung näherer Prüfung nicht stand.

Reichtum abtreten?

Ebenso wenig stichhaltig erscheint der mit dieser Beschwörung von Kontinuität verbundene Anspruch der katholischen Soziallehre, ein originär christlicher Beitrag zu Fragen einer gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sein. Auch hier sprechen die Quellen eine andere Sprache. Die zunächst als «Dritter Weg» zwischen Kapitalismus und Sozialismus konzipierte katholische Soziallehre gründet vor allem in der von dem Jesuiten Heinrich Pesch (1854 bis 1926) entwickelten Doktrin des «Solidarismus».

Diese «Vermittlung von Individualismus und Sozialismus», so Pesch, war eine deutliche Abkehr von der bisherigen sozialethischen Tradition. Wie aus seinem fünfbändigen «Lehrbuch der Nationalökonomie» hervorgeht, waren Peschs Inspirationsquellen die sogenannten «Kathedersozialisten», vor allem Adolf Wagner, Gustav Schmoller und Hermann Rösler.

Von diesen Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonomie übernahm Pesch die Grundüberzeugung, dass es keine überall geltenden ökonomischen Gesetze gebe und dass der Staat eine immer grössere Rolle als Gestalter von Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen habe. Da die Vertreter der Historischen Schule Volkswirtschaften als historisch gewachsene, singuläre Kulturprodukte einzelner Nationen verstanden, hielten sie die wirtschaftliche Realität für beliebig modellierbar – gemäss sozialen Erfordernissen und moralischen Postulaten. Entscheidend war nach Pesch die Definition dessen, was das «Wohl des Volksganzen» und die «soziale Gerechtigkeit» verlangen. Dementsprechend kann durch staatliche Eingriffe eine Volkswirtschaft in die sozial erwünschte Richtung gelenkt werden.

Dafür müsste eine weltweit koordinierte Umverteilung veranstaltet werden – am besten mithilfe einer Weltregierung.

Solche Vorstellungen fanden Eingang in die katholische Soziallehre des 20. Jahrhunderts. Das begann 1931 mit der unter dem massgeblichen Einfluss von Peschs Schülern verfassten Enzyklika «Quadragesimo anno» Pius' XI. und kulminierte in Pauls VI. Enzyklika «Populorum progressio» (1967). Moralische Postulate wurden hier ökonomisch unreflektiert in wirtschaftspolitische Programmatik umgegossen, die abgekürzt besagte: Armen Ländern sei zu helfen, indem die entwickelten Länder ihnen einen Teil ihres Reichtums abträten. Dafür müssten Marktmechanismen ausgeschaltet und eine weltweit koordinierte Umverteilung veranstaltet werden – am besten mithilfe einer Weltregierung.

Kathedersozialismus

Erst Johannes Paul II. setzte diesem kirchenamtlichen Kathedersozialismus ein vorläufiges Ende. Er erklärte 1987, die kirchliche Soziallehre sei theologischer Natur und deshalb kein «dritter Weg zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus». 1991 verwies er in seiner Enzyklika «Centesimus annus» zum hundertsten Jahrestag von «Rerum novarum» den Sozialismus in die Mottenkiste der Geschichte und anerkannte den «richtig verstandenen», nämlich in eine Rechtsordnung eingebetteten Kapitalismus – die auf freiem Unternehmertum beruhende Marktwirtschaft – als die einzige menschengerechte und effiziente Wirtschaftsordnung. Den armen Ländern empfahl er Integration in die Weltwirtschaft auf der Grundlage freier Handelsbeziehungen.

Doch der «Solidarismus», der voraussetzt, man könne mit moralischer Anstrengung und dem Dekretieren von «sozialer Gerechtigkeit» einen gesellschaftlichen Idealzustand herstellen, prägt bis heute eine unter christlichen Sozialethikern verbreitete humanitär-linksklerikale Mentalität. Der Staat, so hört man neuerdings auch aus päpstlichem Mund, müsse «barmherzig» sein und im Sinne der christlichen Nächstenliebe agieren – vor allem dann natürlich, wenn es etwas zu verteilen gebe.

Gottes Gaben?

Barmherzigkeit ist in der Tat der Kern des Christentums. Doch ist es Aufgabe des Staates, barmherzig zu sein? Der «Staat» kann gar nicht barmherzig sein, weil der Staat nicht handelt. Allein Politiker und Beamte können handeln – allerdings nur mit Steuergeldern. Gott jedoch, dessen Allmacht sich vorzüglich in seiner Barmherzigkeit zeigt, beschenkt uns nicht mit Gaben, die er vorher anderen weggenommen hat. Er verschenkt aus seiner eigenen Fülle – jedem nach seinen Bedürfnissen.

Politisches und staatliches Handeln muss sich aufgrund von Regeln der Gerechtigkeit vollziehen. Zu ihnen gehören auch die Regeln der Asylgewährung und Überlebenshilfe für Flüchtlinge. Sie entsprechen nicht einem Gebot der Barmherzigkeit, sondern der Gerechtigkeit, deren Grenzen die Rechte der Bürger des Hilfe gewährenden Landes bilden. Die Forderung nach dem barmherzigen Staat hingegen ist ein Fass ohne Boden. Zur politischen Handlungsnorm eines steuer- und schuldenfinanzierten Sozialstaates erhoben, schwächt sie nicht nur die Bereitschaft der Bürger zur freiwilligen, individuellen und korporativen Barmherzigkeit – ohne Steuermittel –, sondern zerstört auch das Gerechtigkeitsempfinden.

Dass Nächstenliebe nicht Aufgabe des Staates ist, zumal dieser mit den Mitteln der Zwangsbesteuerung operiert, war von Leo XIII. klar ausgesprochen worden. Ihm folgten damals katholische Politiker wie Georg von Hertling: «Die Bruderliebe zur Grundlage staatlicher Massnahmen machen heisst, die Competenz der Staatsgewalt überschreiten und zugleich die Bruderliebe in ihrem Lebensnerv angreifen.»

Büchse der Pandora

Pesch verblieb zwar verbal innerhalb dieser Tradition, weitete jedoch seine Vorstellung von Gerechtigkeit zur «sozialen Gerechtigkeit» aus und unterhöhlte damit die bisherige kirchliche Position. Nicht Nächstenliebe zwar, aber Veranstaltung des «Wohles des Volksganzen» sei Aufgabe des Staates. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet.

Denn die Sprache der «sozialen Gerechtigkeit» ist die Sprache der normativen Willkür. Für soziale Gerechtigkeit im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit gibt es bis heute keinerlei interessenunabhängige und ideologiefreie Kriterien. Deshalb ist sie, wie auch der in ihren Sog geratende Begriff des Gemeinwohls, Spielball der auf Wählergunst schielenden Politiker und staatlich verordnete Barmherzigkeit predigender Theologen.

Wie vor ihm schon Bischof von Ketteler und Leo XIII. machte sich Pesch keinen Begriff von der Wohlstand schaffenden Dynamik des Industriekapitalismus. Ketteler und Leo XIII. traten zwar für Arbeiterschutzgesetze ein und nannten Überlebenshilfe für Mittellose eine strikte Gerechtigkeitspflicht, zu deren steuerfinanzierten Organisation auf kommunaler Ebene der Staat seine Bürger verpflichten könne. Das Los der Arbeiterschaft zu verbessern, sahen sie hingegen als eine Sache der kirchlichen Caritas an – mehr als eine Linderung von Not lag nicht in ihrem Vorstellungshorizont. An die Stelle von Caritas tritt nun bei Pesch – und darin ist er «modern» – die staatliche Veranstaltung des «Wohles des Volksganzen» und damit der Primat der Politik.

Das in «Quadragesimo anno» formulierte Subsidiaritätsprinzip vermochte den zunehmenden Trend zur kirchlichen Gutheissung einer Politik staatlich organisierter Zwangssolidarität und Wohlstand vernichtender Umverteilung nicht zu verhindern. Dies mündete in die vollständige Abkehr von jener älteren Tradition, die die Idee einer Besserstellung der Arbeiterschaft durch Umverteilung aufgrund von Mehrheitsbeschlüssen als Verletzung des Privateigentums und Gefahr für die Freiheit abgelehnt hatte.

Der Staat, so Leo XIII. in «Rerum novarum», müsse als seine erste Aufgabe «durch entschiedene Massregeln das Recht und die Sicherheit des privaten Besitzes gewährleisten». Zur «Verbesserung der eigenen Lage» auf «Aneignung fremden Besitzes ausgehen, und dies unter dem törichten Vorgeben, es müsse eine Gleichmacherei in der Gesellschaft erfolgen, das ist ein Angriff auf die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl zugleich». Diese Aussage ist angesichts unserer – auf Kosten zukünftiger Generationen – schuldenfinanzierten Sozialstaaten aktueller denn je.

Verteilungsfragen

Genauso wie andere etatistische Konzeptionen beruhte auch der Solidarismus auf der Missachtung fundamentaler ökonomischer Gesetzlichkeiten und deren Relevanz für den Gerechtigkeitsdiskurs. Zudem gründete er in der – auch von Ketteler geteilten – traditionell katholischen Ablehnungshaltung gegenüber jenen, die diese ökonomischen Gesetze lehrten: den klassisch-liberalen Ökonomen. Ihre Ansichten wurden als «Ökonomismus» gebrandmarkt.

Der Ökonomismusvorwurf beruht jedoch auf mangelndem Reflektieren der Gesetze des wirtschaftlichen Wachstums und der Ursachen von Wohlstand. Sowohl der Solidarismus, der auf Verteilungsfragen und «soziale Gerechtigkeit» fixiert ist, wie auch die ältere Beschränkung auf kirchlich-caritative Tätigkeit scheinen deshalb heute überholt.

Ungerechtigkeit kann immer nur Folge intentionaler, menschlicher Handlungen sein, darauf hat der Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek zu Recht hingewiesen. Märkte jedoch sind keine Handlungssubjekte, deshalb können ihre Ergebnisse auch nicht «gerecht» oder «ungerecht» genannt werden. Dabei ist klar: Gesetzliche Ordnungen und Institutionen, in die Märkte eingebettet sind, können ungerecht sein, wenn sie bestimmte Individuen rechtlich benachteiligen und daran hindern, von den Früchten ihrer Arbeit zu leben.

Insofern freie Märkte Transmissionsriemen solcher Diskriminierungen sind, sind auch ihre Ergebnisse ungerecht. «Soziale Gerechtigkeit» liegt deshalb nicht in einer bestimmten Verteilung von Reichtum – dafür gibt es kein Gerechtigkeitskriterium –, sondern in den rechtlichen Regeln und Institutionen, die Märkten ermöglichen, zu diskriminationsfreien Generatoren von Wohlstand zu werden. Hier sollte eine christliche Soziallehre ansetzen, denn hier liegt nicht nur in armen Ländern heute manches im Argen.

Der linksklerikale, solidaristische Diskurs hat jedoch, wenn er von sozialer Gerechtigkeit spricht, nicht dies im Auge. Ihm geht es schlicht um Verteilungsfragen. Nicht Gerechtigkeit, sondern Ungleichheit ist sein Thema. Deshalb sind hier freie Märkte, die den Erfolgreichen mit oft hohem Reichtum belohnen, verhasst und muss soziale Gerechtigkeit, gegen alle ökonomische Vernunft, zur staatlich organisierten «Barmherzigkeit» werden – mit dem Geld der anderen.

Martin Rhonheimer lehrt seit 1990 Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom und ist seit 2015 Präsident des von ihm mitbegründeten Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt.